Plötzlich ging es schnell mit der Massenüberwachung. Es braucht nur einen kurzen Blick nach Südkorea oder China, und selbst George Orwell würde staunen: Durch die Standortüberwachung des Smartphones, kombiniert mit einem rigorosen Netz an Überwachungskameras, die mit Gesichtserkennungstechnologie ausgestattet sind, werden Nutzer auf Schritt und Tritt überwacht. Dadurch soll der Kontakt zu Infizierten nachgewiesen werden. Bürger werden im Falle eines Zusammentreffens mit einer nachweislich erkrankten Person per SMS oder Push-Nachricht in die Quarantäne geschickt. Orwells "1984" wird 2020 teilweise zur Realität.

Wer unter Corona-Verdacht steht, darf nicht heraus, wer die Öffis nutzt, muss belegen, dass er oder sie "sauber" ist. Diese Strategie zeitigt offenbar Erfolg: Südkorea wird für seine Maßnahmen gelobt, wobei das wohl auch mit der hohen Zahl der Testungen zu tun hat. In China flauen die Neuinfektionen völlig ab – allerdings mit einem schalen Beigeschmack. Denn die Krise zeigt die enorm invasiven Möglichkeiten auf, die Staaten heute haben. Der gläserne Bürger ist längst keine dystopische Vorstellung mehr.

Die Abwägung zwischen Datenschutz und der Sicherheit der Bevölkerung – ein ständiges Dilemma der Netzpolitik – wird noch intensiver debattiert werden.
Foto: imago/Stefan Boness/Ipon

Auch in der EU greift man immer mehr in die tiefe Kiste der Überwachungstechnologien. Die genutzten Maßnahmen sind dabei nicht mit den vor allem in Asien verwendeten Instrumenten zu vergleichen. Etwa übermittelte die teilstaatliche A1 der heimischen Regierung Bewegungsströme von Nutzern, damit diese prüfen kann, ob die Ausgangssperre Wirkung zeigt. Anonymisiert, wie man nicht müde wurde zu betonen. Das mag fragwürdig sein, da die Anonymisierung von Mobilfunkdaten, sodass nachträglich keine Rückschlüsse möglich sind, technisch schwierig ist, aber vergleichbar mit Südkorea ist es nicht.

Dazu gesellen sich Italien, Deutschland, Litauen – die Liste der Länder, die Smartphone-Überwachung nutzen, wird immer länger. Auch sie halten sich vergleichsweise noch zurück. In Israel wurde hingegen beschlossen, Überwachungsmaßnahmen, die eigentlich gegen Terroristen genutzt werden, im Antiviruskampf auf die Bevölkerung anzuwenden.

Dilemma der Netzpolitik

Eines ist sicher: Die aktuelle Krise wird sich verschlimmern, die Zahl der Toten wird definitiv weiter steigen. Und damit wird der Ruf nach Maßnahmen zur Eindämmung, selbst wenn diese die Grundrechte beschneiden, nur noch lauter werden. Die Abwägung zwischen Datenschutz und der Sicherheit der Bevölkerung – ein ständiges Dilemma der Netzpolitik – wird noch intensiver debattiert werden. Schon jetzt zeigen Umfragen in Deutschland, dass Bürger sich immer mehr mit Einschnitten einverstanden erklären.

Wenn das Menschenleben rettet, hat es vorübergehend Sinn. Aber: Wir müssen auf unsere Rechtsstaatlichkeit achten und klare juristische Grenzen definieren. Wir müssen sicherstellen, dass diese Notlösungen auch wirklich rückgängig gemacht werden, sobald die Krise bewältigt ist. In einer Lage wie der jetzigen ist es essenziell, sich vor Augen zu halten: Es wird eine Zeit nach dem Virus geben.

Der EU-Datenschutzbeauftragte warnte kürzlich vor der Verwendung von Handydaten: "Dieselben Daten können auch für sehr undemokratische Zwecke genutzt werden." Damit hat er leider recht. Als Gesellschaft ist es in einer solchen Situation umso wichtiger sicherzustellen, dass wir die Büchse der Pandora nicht öffnen – und eines Tages in einem Überwachungsstaat aufwachen. (Muzayen Al-Youssef, 19.3.2020)