Immer mehr junge Leute ohne festen Wohnsitz im Odenwaldkreis

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Im Odenwaldkreis gibt es immer mehr junge Leute ohne festen Wohnsitz. So Arbeit und Wohnung zu finden, ist schwer. Der 19-jährige Eric gibt nicht auf - und scheint es zu schaffen.

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ODENWALDKREIS. Plötzlich ist er ganz auf sich gestellt, steht vor dem Nichts. Keine Wohnung, keine Arbeit, kein Geld. "Ich wurde quasi so ins Erwachsenenleben reingestumpt", erinnert sich der heute 19-Jährige an den Rausschmiss bei seinen Pflegeeltern. Das ist jetzt gut ein Jahr her, seitdem hat der junge Mann - nennen wir ihn Eric - viel erfahren, lebt ohne offizielle Adresse gleichsam als Obdachloser.

Seit er sich bei der Stadt von der Adresse seiner Pflegeeltern abgemeldet hat, prangt in seinem Personalausweis der Vermerk "ofW" (ohne festen Wohnsitz). Damit hatte er Anspruch auf das Geld, das er sich im Erbacher Landratsamt knapp vier Monate geholt hat: den Tagessatz für Personen ohne festen Wohnsitz, 13,50 Euro und dann bis zu 13,63 Euro. "Das entspricht dem Hartz-IV-Satz, auf Tage runtergebrochen", erklärt Eric. Doch das bot keine Perspektive, fühlte er sich doch zunehmend entmutigt nach all den Absagen bei der Wohnungssuche. Die Vermieter wollten Arbeitsverträge sehen, die Mietpreise waren zu hoch.

Eric hatte eigentlich andere Pläne. Für ihn, der in der Pflegefamilie groß geworden ist, seit dem Alter von zwei Jahren da gewohnt hatte, "war klar, dass ich mit 18 da raus wollte". Als er schon vor seinem 18. Geburtstag seine Sachen zusammengepackt hatte, meinte seine Ziehmutter, "da kann ich auch direkt gehen". Seither haben beide nicht mehr miteinander geredet. Sie hat den Kontakt abgebrochen, er ihn nie wieder gesucht. Erklären kann er das nicht.

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Bei sich aufgenommen hat ihn sein "Pflegebruder", der auch in jener Familie groß geworden ist. Der hat ihm den Tipp gegeben, sich bei einem Zeitarbeitsunternehmen zu bewerben, "das hat ja gleich geklappt". In der ersten Zeit hatte er aber keinen Gedanken für die Arbeitssuche. Da ging es ihm nur um eine Wohnung. "Ich war beim Sozialamt, bekam eine Liste mit Unterkunftsmöglichkeiten." Adressen in Erbach und Michelstadt hat er abgeklappert, "das wurde alles nichts".

Zwar hat er keinen Beruf erlernt, verdient aber seit September 2017 mit dem Job bei der Zeitarbeit sein eigenes Geld. Ihn ärgert jedoch, dass er es nicht wie andere Kunden am Bankautomaten abheben kann, weil ihm dies wegen der fehlenden Meldeadresse verweigert wird. So muss er stets zu den Schalterzeiten ins Geldinstitut. Das ist nicht nur umständlich, es fühlt sich auch nicht gut an.

Schon seine leibliche Mutter war Hartz-IV-Empfängerin. Und als sein Vater Selbstmord begangen hatte, ging sie zum Jugendamt und gab ihn in die Pflegefamilie. Die Frau fühlte sich überfordert, hat auch seinen fünf Jahre älteren Bruder zur Pflege weggegeben. Der ist geistig behindert und lebt inzwischen wieder bei seiner Mutter. Auch wieder dort zu leben, ist für Eric undenkbar. "Das sind Menschen, mit denen ich nicht klar komme. Die sind den ganzen Tag zuhause, das zieht mich vielleicht runter", befürchtet er. Nein, er will lieber arbeiten, auf eigenen Füßen stehen.

So wie Eric geht es vielen jungen Menschen. Diese Erfahrung des Personaldienstleisters, bei dem er inzwischen einen Job gefunden hat, bestätigt die Wohnsitzlosenberatung der Arbeiterwohlfahrt Odenwaldkreis in Michelstadt. "Das wird immer mehr", meint AWO-Beraterin Ulrike Eckartz.

Im ganzen Odenwaldkreis gibt es keine Notübernachtung. Eckartz sieht das als politisches Problem: "Die Kommunen sind zwar zuständig, halten aber keine Plätze vor, jedenfalls nicht genug." In einem Haus an der Bundesstraße 47 bietet die AWO die Möglichkeit zum Tagesaufenthalt. Das ist eine Hilfe für wirklich Obdachlose, deren Zahl generell steigt. Aber es ist kein echtes Angebot für Leute wie Eric. Ihm müsste das Jugendamt helfen, aber das erkläre sich bei über 18-Jährigen nicht für zuständig. "Die schicken die einfach weg", hat die Sozialarbeiterin erlebt. "In Jugendhilfeeinrichtungen reinzukommen ist ab 18 schwierig", weiß Oliver Hülsermann, AWO-Geschäftsführer. Bei Eric war das Jugendamt damals zwar noch zuständig, aber er ging seinen eigenen Weg.

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Solche Beispiele kennen Hülsermann und Eckartz von der AWO-Beratung zuhauf. Und nicht selten werden "die jungen Menschen, die hoppla-hopp zuhause rausfliegen, zwischen dem Job-Center und der Jugendhilfe hin- und hergeschickt", weiß Hülsermann, es fehlt ein Ansprechpartner. Ulrike Eckartz: "Die meisten, die bei uns landen, sind völlig hilflos." Ihnen fehlt die soziale Anbindung in den Familien oder auch in der Nachbarschaft. So versuchen die AWO-Berater meist erfolglos, über die Stadt oder Gemeinde eine Unterkunft zu vermitteln. Der Mangel an günstigem Wohnraum verschärft das Problem. Sozialer Wohnungsbau findet im Odenwaldkreis fast nicht mehr statt, stellt der AWO-Geschäftsführer fest.

Mit dem Job bei der Zeitarbeit wächst die Hoffnung

Nach und nach schöpfte Eric wieder Hoffnung. Bei der Firma, bei der er im Schicht-System eingesetzt ist, will er eine Ausbildung machen zum Verfahrensmechaniker. "Die suchen Auszubildende. Da rechne ich mir gute Chancen aus." Aus dem für ihn zuständigen Personalbüro sei ihm zu verstehen gegeben worden, "es gibt keine Probleme, wenn ich mich da bewerbe". Offenbar hat sich Eric gefangen, nachdem er zuvor vieles falsch gemacht hatte in seinem Leben. Seinen Hauptschulabschluss hat er geschafft, mit guten Noten sogar. Im Beruflichen Schulzentrum Odenwaldkreis hat Eric versucht, die Mittlere Reife nachzuholen. Er hatte wenig Lust zu lernen, seine Faulheit war ihm im Weg, er gab auf - ein Fehler, wie er nun weiß: "Jetzt wäre ich froh, wenn ich wieder zur Schule gehen könnte."

Arbeitssuchend gemeldet, ergriff er die Chance, einen berufsbegleitenden Bildungslehrgang zu belegen. "Ich wollte etwas machen, das im Lebenslauf gut aussieht." Zehn Monate Bewerbungstraining, Fachklassenbesuch für Hotel und Gastronomie, Holz (Zimmerer) und Lagerlogistik, sowie ein viermonatiges Praktikum hat er absolviert mit dem Ziel einer Ausbildung. "Das hätte fast geklappt, in einem Sägewerk", erinnert sich Eric. Dort hätte er sogar günstig wohnen können. "Aber ich war zu jung und blöd im Kopf", für seine damalige Freundin hat er alles hingeschmissen.

Danach stand er wieder am Rand der Gesellschaft. Doch noch ist es nicht zu spät, jetzt hat er Durchhaltevermögen, arbeitet werktags und fast jedes Wochenende. Zwar hält er die Steuerklasse sechs für ungerecht, aber die Feiertags- und Nachtzulagen machen das wett, meint er. So erhöht sich sein Grundverdienst ansehnlich. "Ich komme gut über den Monat." Und wenn er eine eigene Wohnung hätte, bekäme er quasi automatisch eine niedrigere Steuerklasse und mehr Geld. Die Steuerklasse eins kann er auch mit einem schriftlichen Antrag auf eine Papierbescheinigung vom zuständigen Finanzamt erhalten - eine postalische Adresse vorausgesetzt. Ansonsten bleibt nur eine mögliche Rückerstattung per Lohnsteuerjahresausgleich.

Aber am liebsten würde Eric in eine eigene Wohnung ziehen, wie er sie nach intensiver Suche gerade in Aussicht hat. Da müsste er nicht mehr bei seinem Freund leben, könnte mit seiner neuen Freundin zusammenziehen. Mit der gerade 18 Jahre alten Frau hat er seit eineinhalb Jahren eine Beziehung. Sie hat aber ebenfalls gerade keinen Job, kein Geld und keine Wohnung.

Von Elmar Streun