Politik

Arbeitsloser fordert Hartz-IV-System heraus Querulant oder Querdenker?

Ralph Boes: "Die Menschen lehnen sich gegen ein System auf, das nicht funktioniert."

Ralph Boes: "Die Menschen lehnen sich gegen ein System auf, das nicht funktioniert."

(Foto: picture alliance / dpa)

Ist er "Deutschlands frechster Schnorrer"? Oder ein engagierter Streiter für das Grundgesetz? Ralph Boes lehnt seit mehr als zwei Jahren jedes Stellenangebot ab und verweigert sich allen Auflagen seines Jobcenters - um die "Verfassungsfeindlichkeit" von Hartz-IV-Sanktionen zu belegen.

Ende November in Berlin: So radikal wie Ralph Boes wehrt sich in der Hauptstadt dieser Tage niemand gegen Hartz-IV-Sanktionen. Der 55-Jährige hungert seit mehr als drei Wochen, um gegen Leistungskürzungen zu protestieren. Fast zehn Kilo verlor er schon. Vor der völligen Entkräftung steht Boes trotzdem nicht. "Mir geht es gut", sagt er. "Ich bin arbeitsfähig bis zum Anschlag." Mit arbeitsfähig meint Boes vor allem eines: kampfeswillig. Sein Drang, sich aufzulehnen gegen die Obrigkeit, hat gerade frische Nahrung bekommen. Statistiken von der Bundesagentur für Arbeit zeigen: Die Zahl der Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfängern hat bisher ungeahnte Ausmaße erreicht.

Wer Stellenangebote oder Auflagen des Jobcenters ablehnt, riskiert Sanktionen. Zwischen August 2011 und Juli 2012 konnte die Bundesagentur für Arbeit einen Rekordstand von mehr als einer Millionen Strafmaßnahmen verzeichnen.

Wer Stellenangebote oder Auflagen des Jobcenters ablehnt, riskiert Sanktionen. Zwischen August 2011 und Juli 2012 konnte die Bundesagentur für Arbeit einen Rekordstand von mehr als einer Millionen Strafmaßnahmen verzeichnen.

(Foto: picture alliance / dpa)

Zwischen August 2011 und Juli 2012 kürzten die Jobcenter in Deutschland mehr als eine Millionen Male Leistungen. Im Schnitt mussten die Betroffenen auf 106 Euro verzichten - fast ein Drittel des Regelsatzes für Alleinstehende.

Besonders stachelt Boes an, dass die Behörde stolz auf diese Zahl ist. Sie führt den neuen Höchststand bei Strafmaßnahmen auf die "konsequentere und professionellere Arbeit" ihrer Angestellten zurück. Boes sieht in diesem Eigenlob den Gipfel des Zynismus. Er hält die Sanktionen schließlich für verfassungswidrig. Wie weit er seinen Hungerstreik treiben werde, wisse er nicht, sagt er. Er erweckt aber den Eindruck, als würde er durchhalten, bis er etwas bewegt. Versucht hier ein Querulant das Recht in seinem Sinne zu beugen? Oder ist sein Protest berechtigt?

Vom Philosophen zum Präzedenzfall

Boes stammt aus Bacharach am Rhein. Seine Eltern waren Winzer und Hoteliers. Nach dem Abitur studierte er Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte, brach das Studium aber ab. Er schlug sich mit Nachtwachen in einem Krankenhaus durch, ließ sich zum Ergotherapeuten ausbilden. Er verdiente sein Geld zeitweise als Sozialarbeiter und Kulturmanager, zog mehrmals um. Auch in die Selbstständigkeit wagte er sich. Boes gründete eine Ich-AG für die "Geistesschulung" älterer Menschen. Kurzum - er probierte vieles aus, um für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. 2006 war Schluss. Seither, so sagt er, hat er "kein sinnvolles" Jobangebot mehr bekommen. Es folgte Arbeitslosengeld I, dann Hartz IV.

Sechs Jahre lang lebt Boes nun schon mit und vom Jobcenter. Sechs Jahre, in denen er für sich feststellte, dass mit diesem System etwas nicht stimmt. Fragt man ihn, warum die Zahl der Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger derart in die Höhe geschnellt ist, antwortet er: "Die Menschen lehnen sich gegen ein System auf, das nicht funktioniert." Sie verweigerten die Kooperation - genauso wie er.

Boes fordert das Hartz-IV-System seit zweieinhalb Jahren bis aufs Äußerste heraus. Er überzieht Politik und Behörden nicht nur mit Brandbriefen gegen die Sanktionen. Er verstößt auch bewusst gegen jede Auflage des Jobcenters, lehnt jedes Stellenangebot ab.

Leben von 37,40 Euro im Monat

Die Behörde kürzte 90 Prozent seiner Leistungen. Seinen Hungerstreik begann er, als er von nur noch 37,40 Euro im Monat leben sollte. Ihm geht es bei seinem Protest aber nicht darum, dass die Behörde die Sanktionen wieder aufhebt. Im Gegenteil: Er möchte die Sanktionierung auf 100 Prozent treiben. Auf seiner Webseite wirbt Boes damit, einen Präzedenzfall schaffen zu wollen, "indem er sich selbst offen in die Schusslinie aller Sanktionen stellt". Sein Ziel ist eine Klage, die er durch alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht durchkämpfen will.

Besonders treffen Kürzungen der Hartz-IV-Leistungen oft die Kinder der Sanktionierten.

Besonders treffen Kürzungen der Hartz-IV-Leistungen oft die Kinder der Sanktionierten.

(Foto: picture alliance / dpa)

Seine Argumente: Dass jemand in Deutschland - aus welchen Gründen auch immer - von 37,40 Euro oder noch weniger leben muss, hält er für menschenunwürdig. Für verfassungsrechtlich bedenklich erklärt er neben etlichen weiteren Punkten auch, dass Hartz-IV-Empfänger ihren Beruf nicht frei wählen können und sich nicht frei in Deutschland bewegen dürfen, weil sie stets für ihr zuständiges Jobcenter verfügbar sein müssen.

"Das System ist verfassungsfeindlich und die Leute merken das", sagt er. Darum, so Boes, lassen es auch so viele andere Menschen nicht nur auf Sanktionen ankommen, sondern klagen auch dagegen. Seiner Meinung nach allerdings an der falschen Stelle - bei Sozialgerichten, nicht beim Bundesverfassungsgericht.

Ein großer Teil der Sanktionen scheitert vor Gericht

Allein an den Berliner Sozialgerichten sind seit Inkrafttreten der Hartz-IV-Regeln 2005 mehr 170.000 Verfahren im Zusammenhang mit den Arbeitsmarktgesetzen aufgelaufen. Und laut einem Sprecher gewannen dabei in ungefähr der Hälfte der Fälle die Hartz-IV-Empfänger. Sanktionen scheitern noch in viel mehr Fällen als Statistiken zur Anzahl von Klagen hergeben. Etliche Widersprüche gegen Leistungskürzungen landen gar nicht erst vor dem Sozialgericht, sondern enden außergerichtlich. Laut Experten dann noch viel häufiger zu Gunsten der Arbeitslosen.

Zehntausende rechtmäßige Klagen und noch mehr erfolgreiche Widerspruchsverfahren? Wie ist das möglich? Hat Boes Recht? Rebellieren die Bürger gegen Hartz IV und entlarven das System als verfassungswidrig? Bedarf es nur noch eines Präzedenzfalls und eines Mannes, der den juristischen Weg bis zum Bundesverfassungsgericht auf sich nimmt?

Jobcenter-Mitarbeiter sanktionieren, sie prüfen nicht

Tatsächlich sorgen meist die Schwächen der Jobcenter für den großen Erfolg der Hartz-IV-Klagen vor Sozialgerichten. Dabei spielt vor allem der Kostendruck eine entscheidende Rolle. Am besten illustrieren das die Meldepflichtverletzungen, die laut dem Rechtsanwalt Imanuel Schulz besonders häufig sind.

An Berliner Sozialgerichten gingen seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze mehr als 170.000 Klagen gegen Sanktionen einen.

An Berliner Sozialgerichten gingen seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze mehr als 170.000 Klagen gegen Sanktionen einen.

(Foto: picture alliance / dpa)

Kommt ein Hartz-IV-Empfänger nicht zu einem Termin mit seinem Jobvermittler, droht der ihm mit Sanktionen. Die Einladung zu Terminen versendet das Jobcenter nicht als Einschreiben, sondern als gewöhnlichen Brief mit der Post - das spart ein paar Cent. Allerdings besteht so kein Nachweis, ob ein Hartz-IV-Empfänger das Schreiben bekommen hat oder nicht. Sagt er, er habe das Schreiben nicht erhalten, ist das Jobcenter in der Beweispflicht. Sozialgerichte urteilen in derartigen Fällen laut Schulz, der sich an fünf Standorten in Berlin auf Hartz-IV-Verfahren spezialisiert hat, in der Regel zu Gunsten des Leistungsempfängers. Ob der Fehler hier wirklich beim Jobcenter liegt oder ob manch ein Leistungsempfänger den Kostendruck der Arbeitsagenturen auszunutzen weiß, bleibt dabei offen.

Laut Schulz spielt aber auch die Qualifikation der Mitarbeiter eine große Rolle - und dabei ist zweifelsfrei von den Schwächen der Jobcenter die Rede. Schulz zufolge lehnen die Angestellten teilweise Widersprüche - zum Beispiel gegen Sanktionen wegen abgelehnter Arbeitsangebote, Erstausstattung oder Kosten der Unterkunft - pauschal ab, ohne die Gründe der Hartz-IV-Empfänger genau zu durchleuchten.

Sie prüfen nur nach Aktenlage und berücksichtigen nicht den vom Arbeitslosen vorgetragenen Sachverhalt. Dabei verkennen sie unter anderem ihren Ermessensspielraum und ermitteln nicht, wer bei einem Streit die Beweislast tragen muss. Zum einen, weil die Prüfung Zeit und Geld kosten würde, zum anderen, weil die Angestellten laut Schulz politisch motivierte Anweisungen von der Behördenleitung befolgen müssen und nicht ausreichend geschult wurden. Auf die pauschal abgelehnten Widersprüche folgen dann oft unbegründete Sanktionen.

Keine Revolution der Massen

Der jüngste Sanktionsrekord, mit dem sich die Bundesagentur brüstet, ist also alles andere als das Ergebnis "konsequenterer und professionellerer Arbeit". Nach einer Revolution der Massen gegen ein verfassungsfeindliches System klingt all das aber auch nicht - vielmehr nach berechtigtem Widerstand an einer überlasteten Behörde.

"Sozialgerichte haben die Sanktionen bisher nicht grundsätzlich infrage gestellt", sagt Rechtsanwalt Schulz. "Die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, lässt nicht den Schluss zu, dass es zu einer Änderung kommen wird." Und Schulz zufolge dürften die Sanktionen daher auch vor dem Verfassungsgericht bestehen. "Die bisherige Rechtsprechung begründet dies damit, dass der Kernbereich der Grundrechte gewährleistet sei", sagt er. "Gerichte und Politiker rechtfertigen dies damit, dass Hartz-IV-Empfänger unabhängig von Sanktionen eine Wohnung und Lebensmittelgutscheine gestellt bekommen. Ihre Existenz sei damit gesichert."

Sinnlose Folterinstrumente

Ralph Boes lässt sich von derartigen Aussagen nicht beirren. Auch von kritischen Medienberichten nicht. Nachdem Boes in einer Talkshow aufgetreten war und dort, wie die "Bild-Zeitung" schrieb, seine "dummdreisten Thesen" verbreitet hatte, titelte das Blatt: "Deutschlands frechster Hartz-IV-Schnorrer". Und es schreibt: "Er lebt seit Jahren auf Staatskosten, lehnt sämtliche Jobangebote ab - und prahlt damit auch noch stolz im Fernsehen." Boes vertritt trotzdem weiterhin seine Überzeugungen in der Öffentlichkeit: Dass das Sanktionssystem Ausdruck eines ideologischen Irrtums ist.

"Fördern und Fordern" - mit diesem Slogan bewarb der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder die Arbeitsmarktreformen seiner SPD.

"Fördern und Fordern" - mit diesem Slogan bewarb der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder die Arbeitsmarktreformen seiner SPD.

(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)

Hinter den Sanktionen steckt das Prinzip des "Förderns und Forderns", mit dem die SPD 2005 für ihre Arbeitsmarktreformen warb. Wer keinen Job findet, soll durch Qualifizierungsmaßnahmen durch das Jobcenter für den Arbeitsmarkt getrimmt werden. Wer es ablehnt, seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand beizutragen und nicht bereit ist, die Angebote, die ihm die Behörde macht, auch anzunehmen, soll bestraft werden. So die Logik. Doch das zunächst plausibel erscheinende Credo des Förderns und Forderns hat einen Makel: Es beruht auf der Annahme, dass Vollbeschäftigung möglich ist.

Nicht nur sein Lebensweg beweise das Gegenteil, sagt Boes. Zunehmende Automatisierung und Effizienzsteigerung in der Wirtschaft sorgten dafür, dass der Arbeitsmarkt bestimmte Menschen einfach nicht mehr brauche. Die Stellen, die Jobcenter diesen Menschen anbieten können, nennt Boes aus diesem Grund "sinnlos", und die Sanktionen, die Arbeitslose dazu zwingen sollen, derartige Jobs anzunehmen, bezeichnet er als "Folterinstrumente".

Ein Spiegelstrich in Boes' politischer Agenda

Boes' Kampf gegen die Sanktionen erscheint da nur wie ein Spiegelstrich in seiner politischen Agenda. Weil er glaubt, dass Vollbeschäftigung nicht möglich ist, fordert er denn auch vehement ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das lässt sich allerdings nur sehr begrenzt in den Dimensionen von Verfassungstreue und Verfassungswidrigkeit von Sanktionen begründen.

Der Arbeitsmarktexperte Hilmar Schneider vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) sagt: "Die Freiheit desjenigen, der auf Basis des bedingungslosen Grundkeinkommens tun und lassen kann, was er gerne würde, funktioniert nur, wenn ich irgendjemand anderem ein Stück seiner Freiheit wegnehme." Gemeint ist damit sein Besitz. Wenn Bürger wie Boes Geld bekommen wollen, auch wenn sie sich "sinnloser Arbeit" verweigern, muss irgendjemand dieses Geld bereitstellen. "Solche Eingriffe in die Autonomie von Menschen brauchen eine gute Begründung", sagt Schneider. Dem Wissenschaftler zufolge bedarf die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens daher weniger eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, sondern vielmehr eines neuen gesellschaftlichen Konsens. "Das bedingungslose Grundeinkommen leitet sich nicht aus irgendeinem Naturgesetz ab", sagt er. Es müsse in der Gesellschaft ausgehandelt werden.

Aus Sicht der Rechts- und Arbeitsmarktexperten ist also fraglich, ob Boes mit seinem Streben nach einer Verfassungsklage gegen die Hartz-IV-Sanktionen den richtigen Weg beschritten hat, um sich für sein politisches Ziel einzusetzen. Hinzu kommt nun zynischerweise aber auch noch, dass ihm in seinem Kampf womöglich seine wichtigste Waffe verloren gegangen ist: der Präzedenzfall. Das Jobcenter Berlin Mitte hat mittlerweile zwei Drittel der Sanktionen gegen ihn zurückgenommen. Wegen "Formfehlern". Boes hat daraufhin seinen Hungerstreik eingestellt. Sein Ziel hat er aber nicht aus den Augen verloren. Stellenangeboten und Auflagen will er sich auch in Zukunft verweigern und seine Zeit, wie schon in den vergangenen Monaten dafür nutzen, das Jobcenter Mitte mit Protestbriefen und Anfragen zu überhäufen und an seiner Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zu feilen.

Quelle: ntv.de

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