Interview

Interview mit dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer Hartz-IV-Empfänger Zielscheibe von Diskriminierung

Stand: 13.12.2007 12:13 Uhr

Die Fremdenfeindlichkeit ist gesunken, Hartz-IV-Empfänger werden dagegen zunehmend Opfer von Diskriminierung. Das hat der Soziologe Heitmeyer in seiner Studie "Deutsche Zustände" festgestellt. Im tagesschau.de-Interview warnt er gerade die politische Elite vor der Abwertung von Arbeitslosen.

Seit 2002 untersucht der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer Fremdenfeindlichkeit, Rassenhass und Diskrimierung in Deutschland. Im 6. Band seiner Untersuchung "Deutsche Zustände" stellt er fest, dass die Fremdenfeindlichkeit "signifikant" gesunken ist – als Folge der gesunkenen Arbeitslosenzahlen. Wenn das eigene Leben und der Arbeitsplatz nicht bedroht erscheinen, ist die Ablehnung von Zuwanderern nicht mehr so groß. Die Abwertung von Langzeitarbeitslosen jedoch wächst. Langzeitarbeitslose und Hartz-IV-Empfänger werden zur "Zielscheibe öffentlicher Debatten", warnt Heitmeyer.

tagesschau.de: Weshalb haben Sie erstmals die Einstellungen gegenüber Langzeitsarbeitslosen untersucht?

Heitmeyer: Wir machen die gesellschaftliche Beobachtung, dass zum Teil auch politische Eliten bis in die Talkshows hinein diese Gruppe in den Fokus der Abwertung ziehen. In dem Zusammenhang haben wir uns diese Abwertungsmuster in der Bevölkerung angesehen. Und es ist ein erhebliches Ausmaß an Abwertung und Schuldzuweisung gegenüber den Langzeitarbeitslosen vorhanden.

tageschau.de: Macht Arbeit die Menschen toleranter?

Heitmeyer: Ja. Die Konkurrenz nimmt ab und die Zuversicht wächst. Gleichzeitig müssen wir auch sagen, dass die Angst vor einem schnellen sozialen Abstieg durch die Hartz-IV-Gesetzgebung weitgehend stabil geblieben ist.

"Menschen wollen sich abgrenzen"

"Deutsche Zustände 2007"

Die sozialen Beziehungen geraten nach der Studie immer mehr unter Druck. Fast die Hälfte der Befragten stimmt der Aussage zu, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nicht wirklich daran interessiert seien, eine Arbeit zu finden. Etwa die gleiche Anzahl gab an, es gebe "Dinge, die wichtiger sind als Beziehungen zu anderen". Etwa ein Drittel stimmt der Aussage zu, die Gesellschaft könne sich wenig nützliche Menschen und menschliche Fehler nicht mehr leisten. Rund 40 Prozent sind der Ansicht, es werde zuviel Rücksicht auf Versager genommen. 25 Prozent finden, dass "moralisches Verhalten ein Luxus ist, den wir uns nicht mehr leisten können."

tageschau.de: Das Arbeitsleben hat sich so verändert, dass vor allem kurzfristige Arbeitslosigkeit jeden treffen kann. Wie kommt es dazu, dass die Menschen trotzdem die Betroffenen so stark abwerten?

Heitmeyer: Erstaunlicherweise geht die Abwertung von Langzeitarbeitslosen weniger von Menschen in höheren sozialen Lagen aus – von denen man das aufgrund der Leistungsorientierung annehmen könnte. Sondern es sind eher Menschen aus unteren sozialen Lagen, die dann die Langzeitarbeitslosen auch abwerten. Das hat etwas mit der Bestrebung zu tun, sich abgrenzen zu wollen.

tageschau.de: Wie gehen spürbarer wirtschaftlicher Aufschwung und abnehmende Moral in diesem Fall zusammen?

Heitmeyer: Es gibt zwar weniger Angst vor prekären Verhältnissen und deswegen einen Rückgang von Fremdenfeindlichkeit. Aber gleichzeitig hat sich die Qualität des Arbeitslebens verändert, der Druck auf den Einzelnen hat sich erhöht. Das sieht man an der wachsenden Zahl von Menschen, die zusätzlich zu ihrem Einkommen noch Hartz IV beantragen. Deswegen steigt die Wahrnehmung eines Flexibilitätszwanges. Auch die sozialen Beziehungen werden unter den Gesichtspunkten von Nützlichkeit und Effizienz gesehen. Das ist ein Indiz für eine verstärkte Ökonomisierung des Sozialen. Der Übergang von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft ist in vollem Gange. Die Kalküle, die für den Wirtschaftsbereich völlig angemessen sind, dringen jetzt aber verstärkt in das Zusammenleben ein.

tageschau.de: Vierzig Prozent der Menschen glauben Ihrer Studie nach, dass die Gesellschaft zuviel Rücksicht auf sogenannte Versager nimmt. Fast die Hälfte der Befragten gibt an, dass manche Dinge im Leben wichtiger sind als menschliche Beziehungen. Haben Sie die Ergebnisse erschreckt?

Heitmeyer: Uns hat überrascht, dass die anderen Daten wie Angst vor dem Arbeitsplatzverlust rückläufig sind, aber der gefühlte Flexibilitätszwang ansteigt. Man will sich unter dem Druck der ökonomischen Kalküle aus dieser Angst befreien und erzeugt gleichzeitig ganz andere Probleme.

"Kalte Kalkulationen"

tageschau.de: Würden Sie bereits von einem erkennbarem Verlust des Mitgefühls in der Gesellschaft sprechen?

Heitmeyer: Das sind eindeutig kalte Kalkulationen, darin steckt nicht mehr viel Mitgefühl.

tageschau.de: Der bei den Grünen gerade ausgetretene Politiker Oswald Metzger hat sich kürzlich sehr abfällig über Langzeitarbeitslose geäußert. Ist das ein Ausrutscher oder Teil eines größeren Phänomens?

Heitmeyer: Man kann zwar nicht sagen, dass die Eliten etwas produzieren und das sickert in die Bevölkerung ein – es kann ja auch umgekehrt sein: Dass diese Einstellungen in der Bevölkerung schon vorhanden sind. Aber die Eliten nehmen es auf und vervielfältigen gewissermaßen solche Stereotypen. Solche Menschen, die Metzger ansprach, mag es geben. Das Problem ist die Verallgemeinerung. Insofern tragen die Eliten hohe Verantwortung.


tageschau.de: Ein Politiker, der sich so über gesellschaftliche Gruppen äußert, handelt in Ihren Augen unverantwortlich?

Heitmeyer: Natürlich. Diese Abwertung von Gruppen führt in weiteren Schritten in die Diskriminierung hinein und Abwertungen sind immer ein Aspekt von Voraussetzung für die Absenkung auch von Gewaltschwellen. Das muss nicht unbedingt gegenüber Langzeitarbeitslosen gelten. Sondern das gelingt vor allem gegenüber anderen schwachen Gruppen in der Gesellschaft, ob das Zugewanderte, Homosexuelle oder Obdachlose sind.

"Ausgrenzungen schweißen zusammen"

Wilhelm Heitmeyer

Prof. Wilhelm Heitmeyer ist Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Für die Studie "Deutsche Zustände" untersucht er menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung. Heitmeyer fordert eine Diskussion über den Zusammenhang der von Eliten und Medien reproduzierten Bildern von Langzeitarbeitslosen und den Einstellungen in der Bevölkerung.

tageschau.de: Sehen Sie darin eine Absicht der Politik, den Druck auf Arbeitsplatzbesitzer und Kurzzeitarbeitslose zu erhöhen?

Heitmeyer: Das gehört mit in diesen Bereich hinein nach dem Motto: Wir brauchen immer ausgegrenzte Gruppen als Warnsignal für die Mehrheit, um dadurch die Gesellschaft zu stabilisieren und effektiver zu machen. Solche Ausgrenzungen von bestimmten Gruppen führen ja gerade nicht dazu, dass eine Gesellschaft auseinanderfällt, sondern paradoxerweise, dass bestimmte Gruppen oder Kerne zusammengeschweißt werden. Es ist insofern natürlich auch eine besondere Form der Menschenfeindlichkeit.

Die Studie ist unter dem Titel "Deutsche Zustände" im Suhrkamp-Verlag erschienen.

Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de